Jessicas Leben

Am 16.03.1992 wurde morgens um 10.00 Uhr unser zweites Kind geboren. Es war ein Mädchen und wir gaben ihr den Namen Jessica.

Nachdem wir genauso wie bei unserem ersten Kind (Patrick) nachts ins Krankenhaus gefahren waren, wollte Jessica dort scheinbar doch nicht das Licht der Welt erblicken. Die einzige Person, die der Meinung war, dass es nicht mehr lange dauern könne, war ihre Mutter.

Doch der Wehenschreiber sagte was ganz anderes. Ihre Mutter lag jedoch sich windend im Bett, während ich wartend auf dem Stuhl daneben gegen meine aufsteigende Müdigkeit ankämpfen musste.

Irgendwann kam zum wiederholten Male eine Krankenschwester um bei dem Wehenschreiber zu sehen und stellte plötzlich fest, dass dieser nicht richtig angeschlossen war. Dann wurden alle ganz schnell. Es dauerte noch ca. 30 Minuten und Jessica war da.

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Ein kleines wunderschönes
Geschöpf Gottes. Wir waren
erschöpft, aber überglücklich.

 

Bereits nach 3 Tagen durften wir die Heimreise antreten. Unsere Familie war komplett. Wir haben uns zwei Kinder gewünscht, am besten ein Junge und ein Mädchen.

Zuhause angekommen wurde Jessica überschwänglich von ihrem Bruder empfangen. Kuscheltiere wurden in großer Stückzahl in die Wiege gelegt. Die eigene Kuscheldecke wurde Jessica überlassen. Es war ein schönes Gefühl, diese Freude von Patrick über seine Schwester zu erleben.

Es begann die Zeit, in der Jessica von uns die volle Aufmerksamkeit forderte. Sie hatte von Anfang an der Welt vieles mitzuteilen. Leider war es zu dieser Zeit für uns nicht verständlich, da sich ihr Mitteilungsbedürfnis nur sehr einsilbig in lautem Schreien ausdrückte.

Trotz vieler Versuche ist es uns nicht gelungen, die immer funktionierende Methode zur Beruhigung zu finden. Manchmal half ein Schlafliedchen, manchmal half es, sie in den Schlaf zu schaukeln, manchmal half gar nichts. Manchmal wurde auch einfach mal eine Nacht durchgemacht.

Es war eine sehr anstrengende und aufreibende Zeit. Am Ende aber war dann das Lächeln, Jessicas Lächeln. Und alles war wieder gut !

Nach einem halben Jahr hat sich Jessica dann endlich beruhigt und wurde ein wenig pflegeleichter, so dass wir es auch gelegentlich der Oma zumuten konnten, auf Jessica aufzupassen, wenn wir uns mal einen Abend Auszeit genommen haben. So kam es dann, dass die Oma als Aufsichtsperson den Abend bei uns verbrachte. Jessica wurde von uns zu Bett gebracht und wir verabschiedeten uns für den Abend. Als wir dann spät am Abend zurückkamen, in der Erwartung Oma und die Kinder schlafend anzutreffen, mussten wir feststellen, dass Jessica sich ein anderes Abendprogramm ausgesucht hatte. Oma saß bei Jessica am Bett und wurde lebhaft von ihr unterhalten. Die Oma hätte gerne geschlafen, doch Jessica hatte so viel zu erzählen.

Die andere Oma von Jessica lebte mit uns im Haus. Ein Jahr nach Jessicas Geburt wurde bei ihr erneut Krebs festgestellt. Nach einem weiteren halben Jahr verstarb diese Oma, die sich so sehr auf ein Leben mit ihren Enkeln gefreut hatte. Es war ein Tag vor Heiligabend. Unseren kleinen Kindern zuliebe haben wir Weihnachten gefeiert. So weh dieser Abschied auch war, es war in den vergangenen Monaten abzusehen, dass diese Oma nicht mehr lange leben sollte. Das letzte Ereignis in ihrem Leben war der Nikolausbesuch mit den Enkeln an ihrem Bett.

Ein Tag nach den Weihnachtsfeiertagen traf uns dann der erste wirklich große Schock in unserem Leben. Jessica war plötzlich total apathisch. Sie bewegte sich nicht mehr, konnte nicht mehr sitzen und war völlig weggetreten. Voller Panik und Angst rief ich den Notarzt an, welcher nach unendlich langer Zeit endlich vor der Tür stand und unsere kleine hilflose Maus behandeln konnte. Die Diagnose war rasch gestellt: Fieberkrampf ! Das Gehirn hatte einfach seine Funktion eingestellt, um nicht zu überhitzen.

Als Jessica dann mit ihrer Mutter im Krankenwagen war und sie sich auf den Weg ins Krankenhaus machten, bin ich kraftlos, am ganzen Körper zitternd und weinend in einer Ecke zusammengesackt. Es hat lange gedauert, bis ich wieder in der Lage war, einen einigermaßen klaren Gedanken zu fassen. Sachen fürs Krankenhaus zusammenpacken, Patrick zur Tante bringen. Alles in panischer Eile, um so schnell wie möglich ins Krankenhaus zu kommen.

Jessi im Krankenhaus
Dort angekommen fand ich Jessica wieder bei Bewusstsein vor, mit einer Infusionskanüle im Kopf. Man sagte uns, dass dadurch das beruhigende Mittel am schnellsten wirken konnte.

 

Krankenhausaufenthalt von Jessica und Trauerfeier der Oma. Das alles zur Weihnachtszeit in Erwartung eines neuen Jahres. Zuviel ! Ich war kurz davor selber zusammenzubrechen, zumal uns die Wochen vor dem Tode der Oma schon viel abverlangt haben.

Silvestermorgen durften wir Jessica wieder mit nach Hause nehmen. Man gab uns Medikamente und die richtige Verhaltensweise bei Wiederholung eines Fieberkrampfes mit auf den Weg. Natürlich nicht, ohne uns über evtl. Folgeschäden zu informieren.

Wenige Wochen später erlitt Jessica einen weiteren Fieberkrampf. Jetzt durch die Ärzte im Krankenhaus aufgeklärt und mit den richtigen Medikamenten ausgestattet, wurde Jessica sofort von uns zuhause behandelt.

Somit stand ihrer weiteren Entwicklung in ein gesundes und sorgenfreies Leben nichts mehr im Weg.

Jessica entwickelte sich prächtig. Aus ihr wurde ein lebhaftes, aufgewecktes, immer freundliches und hübsches Mädchen. Zur Taufe noch ohne jegliches Haar auf dem Kopf, entwuchs ihr im Laufe der Zeit eine wunderschöne blonde Haarpracht.

Jessica wurde zu einem glücklichen Kind und erfreute sich an allem und jedem. Sie erhellte jeden Raum, strahlte Wärme und unvoreingenommene Liebe aus.

Es kam die Kindergartenzeit.

Voller Vorfreude stürzte Jessica sich in ihr großes Abenteuer. Zum ersten Mal einen halben Tag ohne die Mama. Diese Trennung war für Mama schwieriger als für Jessica. Jessica hatte Spaß am Kindergartenleben. Sie blühte in ihrer eigenen Art auf und hatte schnell die Herzen erobert. Immer vorne weg, aber nie in den Vordergrund drängend!

Es war eine sehr glückliche Zeit. Allerdings wollte Jessica uns wohl noch einmal auf das uns noch bevorstehende schrecklichste Erlebnis im Leben einer Muter und eines Vaters vorbereiten.

Es war im Urlaub auf Kreta. Wir waren am Strand und Jessica war plötzlich verschwunden. Panik; Angst; Todesangst machten sich in uns breit. Verzweiflung !

Ein unbeschreibliches Gefühl !

Ein Adrenalinstoß welchen wir noch nie so erlebt hatten.

Dann ……  unbeschreibliche Freude und Erleichterung, als wir Jessica nach scheinbar unendlich langer Zeit wieder in den Arm nehmen durften.

Chrissi

Seit dieser Zeit, seit diesem Erlebnis haben wir Jessica wann immer es möglich und machbar war, nicht mehr aus den Augen gelassen, immer umsorgt und behütet. Jede Sekunde ihres Lebens.

Vor allem die Angst, dass dieses wunderschöne Mädchen entführt und missbraucht werden könnte, ließ mich nie zur Ruhe kommen. Sollte sie sich auch nur um eine Minute verspäten (z.B. wenn sie aus der Schule kommen sollte), hat es mich wie ein hungriger Tiger umher getrieben. Diese aufsteigende Panik wurde glücklicherweise jedes Mal durch die tiefe Freude des Wiedersehens abgelöst.

Nachdem die unbeschwerte Kindergartenzeit vorüber war, folgte die Einschulung. Ein neuer Lebensabschnitt, welchen Jessica voller Vorfreude und Elan in Angriff nahm. Auch bei der Klassenlehrerin war der kleine blonde Engel schnell der Sonnenschein. Genauso unbeschwert wie die Kindergartenzeit, war auch die Grundschulzeit. Alles Neue wurde unverzüglich aufgesogen. Nichts war zuviel. Die Freude an der Schule hat nicht nachgelassen. Die schulischen Leistungen standen nie zur Debatte. Sollten mal Probleme bei den Hausaufgaben auftreten, erfolgte auch schon mal ein Anruf bei der Arbeit. Mal gelang es eine Lösung zu finden, mal nicht. Dann setzten wir uns abends zusammen um das Problem zu lösen. Mal gelang es, mal nicht, bedeutet, dass wir beide uns nicht immer einig über die Vorgehensweisen waren und es ab und zu mal zu kleineren Reibereien kam. Aber allerspätestens zum Gute-Nacht-Kuß war alles wieder in Ordnung.

Jessica war für alles im Leben offen. Nichts wurde ausgelassen. Aus allen ihren Möglichkeiten entwickelten sich zwei besondere Vorlieben. Zum Singen und zum Tanzen.

Singen:

Mit ihren Freundinnen schon vor bzw. seit der Kindergartenzeit sang Jessica bei den Kirchenmäusen. Ein Kinder- und Jugendchor der Kirchengemeinde. Neben einigen Auftritten in der Kirche wurde nach wenigen Monaten ihrer Mitgliedschaft ein Musical aufgeführt: Die kleinen Leute von Swabeedooda.

Swabedooda-Solo Hier hatte Jessica ihren ersten Solopart. Bunt geschminkt stand meine kleine Maus ganz alleine vor ihrem Mikro und vor einem Publikum von rd. 900 Zuschauern. Souverän, wie ein alter Hase, richtete sich Jessica noch das Mikro zurecht und setzte kurz darauf zu ihrem Solopart an. Fehlerlos mit engelsgleicher Stimme (wie viele andere mutige kleine Sänger und Sängerinnen). Für mich war es ein erhebendes Gefühl Jessica dort stehen zu sehen und singen zu hören. Stolz und Freude erhellten mein Gemüt und streichelten meine Seele.

Kurz darauf kam es dann leider zu Terminüberschneidungen mit ihrem anderen Hobby, dem Tanzen. Wir haben Jessica die Entscheidung überlassen, welches ihrer Hobbys ihr am meisten am Herzen liegt. Jessica entschied sich für das Tanzen, auch deswegen, weil absehbar war, dass sie in einiger Zeit mit dem Singen weitermachen könnte, denn mit Vollendung ihres 13. Lebensjahres durfte sie zu den Teens wechseln. Diese Übungszeit fand zu einem späteren Zeitpunkt statt.

Das Jessica ihr 13. Lebensjahr nicht mehr erleben durfte, war uns zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht bewusst.

Tanzen:

Schon recht früh, anlässlich eines „Tag der offenen Tür“ in der Tanzschule, hat Jessica ihre Freude am Tanzen entdeckt. Für Paartanz noch zu klein, wollte sie das Videoclip-Tanzen, das so genannte „Dance4Fans“ machen.

Auch hier entwickelte sich Jessica, wie in allen anderen Sachen, die sie in Angriff nahm, voller Freude und Energie weiter.

2002 war es dann soweit, dass Jessica mit 4 anderen Tänzerinnen zu einer Formation zusammengeführt wurde. Diese Formation machte so schnell Fortschritte, das sie bereits im Frühjahr 2002 zur Qualifikation der Deutschen Meisterschaft antreten sollte. Der Veranstaltungsort lag rund 300 Kilometer entfernt. Warum sollten wir Jessica diese Erfahrung verweigern. Mit der festen Überzeugung, dass diese junge Formation eine weitere Qualifikation nicht schaffen würde, fuhren wir zum Contest. Wider allen Erwartungen schafften die Mädchen die Qualifikation und erfüllten mich mit Stolz und Freude. Schon zwei Wochen später dann die Deutsche Meisterschaft. Dieses Mal war es eine Entfernung von rd. 450 Kilometer (Hamburg). Es war eine riesige Veranstaltung. Jessica war aufgeregt und voller Vorfreude. Es machte Spaß, diese Freude mit Jessica und den anderen Mädchen teilen zu dürfen.

Im Hotel spielte an diesem Morgen das Lied „One day in your life“ von Anastacia. Ich habe Jessica damals gesagt, dass dies heute ihr Tag sei. Heute hast du die Chance Deutscher Meister zu werden. Diese Chance wird nie wieder kommen. Sie wurde nicht deutscher Meister. Ihre Formation belegte den 9. Platz von über 20 Gruppen.

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Nach dieser DM wurde eine neue Formation gegründet (Little Devils). Mit dieser Formation wurde Jessica 2003 und 2004 Deutscher Meister und 2003 sogar Europameister.

Die Europameisterschaft 2004 haben die Little Devils mit Jessica im Herzen getanzt.

 

Wir haben in dieser Zeit mit Jessica so viel Freude erlebt, dass ich keinen Moment missen möchte, geschweige bereuen werde. Ich bin froh darüber, Jessica dies alles ermöglicht zu haben.

2005 sollte das Jahr werden, in dem Jessica endlich mit dem lang ersehnten Paartanz anfangen sollte. Doch seit dem 16.10.2004 tanzt und singt sie in einer anderen Welt. Ohne uns !

In den letzten 2 Jahren ihres schulischen Lebens besuchte Jessicas das Gymnasium. Auch hier brachte sie sich mit all ihrer Begeisterung ein. So gefiel es ihr auch auf ihrem ersten schulischen Weihnachtsbasar den Weihnachtsengel zu spielen.

Im Gegensatz zu Kindergarten und Grundschule bekam Jessica jetzt immer häufiger den Neid und die Ungerechtigkeit von Mitschülern zu spüren, denn sie konnte sich nicht zurückhalten, wenn irgendwo einen Misstand oder eine Ungerechtigkeit gab. Sie war immer dabei und wollte klärend und schützend tätig werden. Für manche, die unter Ungerechtigkeiten zu leiden hatten, wurde sie zu einer wertvollen Freundin, für andere wurde sie durch ihre offene und ehrliche Art zur ungewollten Person. Aber auch denen, die Jessica nicht mochten, ist sie immer wieder mit offenen Armen und Freundschaft entgegengetreten.

Ihren letzten irdischen Geburtstag am 16.03.2004 beging Jessica ohne uns während einer Skifreizeit der Schule. Für Jessica eine schwere Zeit, zumal die Lehrer diesen Tag einfach übergangen haben. Bei den mehrfach täglich geführten Telefonaten kam diese Enttäuschung jedes Mal durch. Unser Angebot, sie jederzeit, wenn sie es möchte abzuholen, nahm Jessica dankend an, entschied sich jedoch zu bleiben und fand auch darüber hinaus noch sehr viel Freude am Skifahren.

Zu Beginn des neuen Schuljahres teilten sich die Klassenverbände neu auf und Jessica fühlte sich nach diversen Schwierigkeiten in der alten Klasse nun wieder richtig wohl und sagte noch am letzten Schultag vor den Ferien (es war der 15.10.2004), dass sie überhaupt keine Ferien brauchte, weil die Schule gerade wieder richtig Spaß machte und alles so toll lief.

Wenige Wochen vorher saßen wir noch gemeinsam im Wohnzimmer und schauten im Fernsehen einen Bericht über Folgen von Fieberkrämpfen. Angesichts der vielen dort dokumentierten Schicksale durch Folgeschäden, bemerkte Jessica, dass sie glücklich darüber sei, gesund zu sein. Diese Worte voller Dankbarkeit kamen aus tiefstem Herzen.

Am 16.10.2004 wurde Jessica dann gnadenlos und chancenlos aus dem Leben gerissen. Jessica liebte das Leben und war nicht bereit zu gehen. Wahrscheinlich musste sie uns deshalb auch des Nachts am scheinbar sichersten Ort dieser Welt, ihrem Bett in ihrem Zimmer, verlassen, ohne dass sie es selber, noch irgendjemand anderer bemerkte.

Jessica hat ein reiches und erfülltes Leben gelebt in ihrer allzu kurzen Zeit. Mit ihrer Liebe hat sie die Herzen ihrer Mitmenschen berührt. Negative Gefühle irgendwelcher Art waren ihr fremd. Wahrscheinlich wusste sie im tiefsten inneren ihrer Seele, dass sie für negative Gedanken oder Gefühle überhaupt keine Zeit in diesem Leben hat. Die Aufgabe dieses viel zu kurzen Lebens war Liebe zu geben. Jessica hat alles was möglich war in diesem Leben mitgenommen und sich niemals beschwert. Sie hatte Freude am Leben.

Jessica hat eine große Leere in unserem Leben, in unseren Herzen und unserer Seele hinterlassen. Eine Lücke, die niemals zu schließen ist. Uns fehlt die Tochter, mit der wir neben unserem Sohn unser Leben geplant hatten und verbringen wollten. Ihrem Bruder fehlt  die Schwester, mit welcher sich streiten und lachen ließ. Eine Vertraute für Probleme mit Freunden und Eltern. Uns allen ist ein Stück entrissen worden, welches nicht mehr nachwächst und uns für den Rest dieses irdischen Lebens fehlen wird.

Wir leben in der Hoffnung, diese wundervolle Seele in einem anderen, nächsten Leben wieder zu sehen, um für die Ewigkeit vereint zu sein.