Die Gedenkfeier
Es ist August. Wir entscheiden uns dafür, für Jessica einen Gedenkgottesdienst zu gestalten. Eine Gedenkfeier, die unsere Handschrift trägt. Eine Gedenkfeier, die wir für unsere Jessica gestalten und vorbereiten. All das machen, wofür wir bei ihrer Abschiedsfeier nicht in der Lage zu waren.
Doch bevor wir mit den Überlegungen anfangen, wollten wir erst klären, ob wir so eine Feier, welche in der evangelischen Kirche nicht üblich ist, überhaupt in unserer Kirche mit unserem Pfarrer feiern können. Schon bevor wir eine Antwort hatten, war uns klar, dass diese Gedenkfeier auf jeden Fall stattfinden wird. Mit oder ohne kirchlichen Beistand. Wir hatten die größten Bedenken ,ob unser Pfarrer diesen Gedenkgottesdienst halten würde.
Der Gesprächstermin stand vor der Tür. Ich hatte unseren Pfarrer eingeladen, ohne ihm den Grund für das gewünschte Gespräch zu nennen.
Unser Gespräch verlief für uns überraschend sehr positiv. Es war ein gutes Gespräch. In diesem Gespräch wurde, was die Gedenkfeier angeht nur geklärt, dass diese Feier stattfinden kann und wann sie stattfinden kann. Es sollte nicht der Jahrestag sein, da die Kirche an diesem Tag den ganzen Tag über besetzt war. So entschieden wir uns, dass die Gedenkfeier am 15.10., ein Tag vor ihrem Todestag, stattfinden soll.
Ansonsten haben wir mit unserem Pfarrer lange über die Zeit nach Jessicas Tod und auch über die Hilflosigkeit der Kirche in einer solchen Situation gesprochen. Es war ein Gespräch, welches das Verhalten unseres Pfarrers in ein ganz neues Licht setzt. Er hatte den Mut, in einer Situation der er selber nicht gewachsen war, zu uns zu kommen., mit uns zu sein.,mit uns zu schweigen, wo Worte den Schmerz nicht ausdrücken können, wo Worte nicht helfen konnten, wo zuviel gesprochene Worte hätten verletzen können. Wir sind dankbar dafür, dass unser Pfarrer dies zum damaligen Zeitpunkt mit uns ausgehalten hat, auch wenn wir diese Situation selber nicht entsprechend würdigen konnten. Wir waren auf der Suche nach Hilfe und konnten zu diesem Zeitpunkt nicht verstehen, warum die Kirche nicht helfen kann. Aber auch dies haben wir mittlerweile verstanden. Umso größer ist unser nachträglicher Dank an unseren Pfarrer, dass er uns ausgehalten hat.
Was die Gedenkfeier angeht, ist dies auch für unseren Pfarrer Neuland. So eine Feier hatte er bisher nicht gehalten. Aber er freute sich darüber, diese Feier mit uns und für uns zu gestalten.
Alsdann machten wir uns daran zu planen, zusammenzustellen, zu suchen und Vorlagen zu entwerfen.
Dies alles war sehr viel Arbeit, hat sehr viel Zeit in Anspruch genommen. Zeit, die verging in schmerzlicher Erinnerung an Jessica. Aber auch Zeit, die verging in dem Wissen für Jessica eine angemessene Gedenkfeier zu gestalten. Eine Feier, die wir unserem Mädchen schenken konnten. Ein Geschenk, welches uns nicht tatenlos in das tiefe Loch der Erinnerung zu dem ersten Jahrestag ihres viel zu frühen Todes fallen lässt. Ein Geschenk, mit welchem Jessica den angemessenen Rahmen bekommt, um ihr zu zeigen; um der nicht sehenden Umwelt zu zeigen; Jessica, Du bist nicht vergessen!
Schon beim nächsten Treffen war unser Konzept für die Gedenkfeier fertig. Die Bücher, welche unser Pfarrer mitbrachte, blieben verschlossen.
Wir machten unsere Vorschläg, welche Inhalte die Gedenkfeier haben sollte,. welche Lieder gespielt werden, welche Lesungen erfolgen sollen. Es sollte eine Gedenkfeier zum zuhören, zum sehen werden. Die Gäste sollten nicht singen. Die Gäste sollten nur die Gelegenheit bekommen sich im stillen Gedenken an Jessica an der Feier zu beteiligen.
Zu unserer Überraschung und Freude hatte unser Pfarrer keinerlei Einwände. Sogar ein von uns persönlicher Text über unsere Empfindungen, Erlebnisse über unseren Schmerz und unsere Trauer fand positiven Anklang und berührte ihn sehr. Ja! Nach diesem Gespräch war endgültig deutlich geworden, dass es unsere Feier für Jessica werden sollte.
Für das nächste gemeinsame Gespräch erstellte unser Pfarrer den Ablauf. Gestaltete den Eingang nach Jessicas Taufspruch und brachte noch einige positive Vorschläge, welche wir noch gerne übernahmen.
Der Rahmen stand somit fest. Jetzt ging es zur weiteren Ausgestaltung.
Zu Jessicas Abschiedsfeier hat der Chor gesungen, in welchem Jessica im Frühjahr nach ihrem Tode wieder einsteigen und wieder singen wollte. Uns war klar, dass auch dieser Chor wieder singen soll. Die Chorleiterin war auch sofort damit einverstanden, doch leider war dieser Gedanke nach der Terminabstimmung auch schon wieder ausgedacht. Sie hatte keine Zeit, da die Gedenkfeier in die Ferien fällt, und sie mit dem Chor auf einer Freizeit ist. Was nun? Wir wollten nicht das die Gäste singen, aber nur Lieder von CD? Ein glücklicher Umstand bescherte uns dann aber eine junge Sängerin und die Chorleiterin bescherte uns den Kontakt zu einem Pianisten. Die Zusagen waren rasch geholt, die Terminabstimmung verlief positiv.
In der Folgezeit wurden mit tatkräftiger Unterstützung von sehr guten und wichtigen Freunden die Programmhefte gedruckt, Texte zusammengestellt und ein endgültiger Ablaufplan erstellt. Alles war zusammengestellt, gedruckt und ein kleines Geschenk für die teilnehmenden Gäste gefertigt.
Teilnehmende Gäste?! Wer wird überhaupt kommen? Wer will sich so was denn überhaupt noch antun? Wer von den Menschen, die uns bis jetzt nicht begleitet haben, wird denn an so einem Tag kommen? Wen von diesen Menschen wollen wir überhaupt auf dieser Feier haben?
Fragen, die nicht eindeutig zu klären waren. Eine Frage jedoch wurde geklärt. Wen wollen wir auf der Feier haben? Nach vielen Überlegungen und Gesprächen war uns klar, dass wir niemanden einladen aber auch niemanden ausladen werden. Wir werden eine Feier für Jessica, für uns und für die Menschen machen, die sich uns und Jessica in irgendeiner Form verbunden fühlen.
Seien es 10 oder 50 Gäste. Darauf kommt es nicht an. Im Nachhinein sollten es über 100 Gäste werden. Wir freuen uns darüber, wie viele Menschen Jessica noch immer im Herzen tragen.
Dann war es soweit, der Tag war gekommen. Es war der 15.10.2005. Der letzte Tag vor einem Jahr, an dem Jessica noch bei uns war. Auch der Tag des Todes konnte nicht schwerer sein. Es war der Tag vor einem Jahr, als das Leben noch in Ordnung war. Es war der Tag an dem wir ahnungslos waren.
Die Kirche war gestellt. Über dem Altar lag ein blaues Tuch und darüber schwebte ein Sternenhimmel mit vielen leuchtenden Sternen. Daneben stand Jessicas Bild. Zum Abschied winkend. Aufgenommen im Sommer vor ihrem Tod. Nicht ahnend, welche Bedeutung dieses Bild einmal haben sollte. Vor ihrem Bild ein himmelblaues Tuch. Auf der anderen Seite des Altars Teelichter und gelbe Sterne. Sterne auf denen die Gäste ihre Gedanken, ihre Wünsche, ihre Gefühle zum Ausdruck bringen konnten. Dabei stand Jessicas Taufkerze, an welcher die Teelichter entzündet werden konnten. Diese Teelichter haben die Sterne zum leuchten gebracht und wurden in Jessicas Himmel gelegt.
Am Ausgang standen Blumen für den späteren gemeinsamen Gang zum Grab. Dort wurden 12 Luftballons, für 12 Lebensjahre, mit 12 Fürbitten einzeln dem Himmel übergeben, damit sie unsere Wünsche, Gefühle, Gedanken und Bitten in den Himmel tragen sollen.
Die gesungenen Lieder waren wunderschön. War es Zufall, das wir nicht den Kinderchor bekamen. War es Zufall, das diese beiden Musiker wundervolle, bewegende Lieder vortrugen. Es war wundervoll, es war Jessica gerecht. Es war als hätte Jessica mit engelsgleicher Stimme selbst gesungen.
Es gibt keine Zufälle. Es sollte so sein. Diese wundervolle junge Stimme in Begleitung eines wunderbaren Pianisten hat unsere Seelen erreicht. Wir danken diesen beiden wunderbaren Menschen für ihre Musik.
Der Schwerpunkt der Gedenkfeier war aber der folgende Text. Es ist die Offenlegung unserer Seele in der Hoffnung, uns und unser Leben den Menschen verständlich zu machen. In der Hoffnung die Menschen aufzuwecken. In der Hoffnung klar zu machen, dass das Leben nicht alle Wunden heilt. Dass das Leben nicht einfach weiter geht,. dass unser Leben zu einem ständigen Kampf im Auf und Ab geworden ist.
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Unser erstes Jahr ohne Dich !!!!
(Gedanken und Gefühle zur Gedenkfeier für Jessica am 15.10.2005; ein Tag vor dem Jahrestag eines viel zu frühen Todes)
-geschrieben von Jessicas Mama, gelesen von Jessicas Papa-
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Ein weiterer Teil unserer Feier war folgender Text von einer guten Freundin gelesen, die es auch nicht immer leicht mit uns hatte. Doch trotz allem, hat sie uns nicht fallen gelassen, hat uns immer wieder gezeigt, wie wichtig wir für sie geworden sind, hat uns gezeigt, dass gute Freunde sich mit einem verändern, wachsen können. Gerade deswegen war es dieser Freundin ein persönliches Anliegen, diesen folgenden Text gefolgt von ehrlichen persönlichen Worten über Unverständnis und Liebe vorzutragen.
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Nach dem abschließenden Gang zu Jessicas kleinem Garten, war dieser überschwemmt von einem Blumenmeer. Es war ein „schöner“ Anblick
Abschließend wurden wir von vielen Menschen in den Arm genommen. Wir haben uns gehalten, wir haben gemeinsam geweint. Diese Menschen waren uns ganz nah. Es hat gut getan. Schon beim Gang in die Kirche ließ man uns keine Wahl. Die Gäste kamen und nahmen uns in den Arm. Selbst Menschen, die Fehler gemacht, die mit uns scheinbar nichts mehr anfangen konnten, kamen zu uns und nahmen uns in den Arm.
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Unser Dankeschön an die Gäste die in der Kirche oder in Gedanken bei uns waren:
Wir danken allen, die heute und in den Tagen davor an uns gedacht haben. Wir danken den Menschen, die uns nicht alleine gelassen haben.
Der Gedenkgottesdienst war sehr schön. Lieben Dank an alle, die mit uns waren, uns getragen haben. Jessica hat uns die Kraft gegeben ihre Gedenkfeier zu überstehen und dafür gesorgt, dass wir nicht in unserem Schmerz versunken sind.
Es waren Menschen auf der Feier, die gemerkt haben, dass sie Fehler gemacht haben, uns alleine gelassen haben und jetzt darunter leiden. Wir wünschen denen die Kraft und den Mut das versäumte nachzuholen. Es waren Menschen auf der Feier, die selbst an diesem Tag nicht gemerkt haben, dass sie uns auch auf der Feier trotz ihrer Anwesenheit alleine gelassen haben. Diesen Menschen wünschen wir alles Gute für ihren weiteren Lebensweg, den sie ohne uns gehen werden.
Wir danken jedem für seine liebevolle und wohltuende Umarmung.
Nun ist es 1 Jahr her, dass wir unsere Jessica verloren haben. Es schmerzt immer noch so als wäre es gerade geschehen. Gleichzeitig haben wir das Gefühl, das es schon unendliche lange her ist das wir Jessica in den Arm nehmen konnten, mit ihr reden konnten. Wir haben immer noch das Gefühl in einem Albtraum zu leben und hoffen darauf wach zu werden.
Ein Jahr ist vergangen. Ein Jahr mit täglichem Besuch deines kleinen Gartens. Einen Garten an einem Ort, wo nicht Dein Garten sein sollte. Ein kleiner Garten der von uns, Deinen Eltern und von Menschen die an Dich denken gepflegt und gestaltet wird. Ein Garten, der Dir sicherlich gefällt. Ich wünschte, Du könntest Deinen Garten hier für uns gestalten.
Ein Jahr ist vergangen. Ein Jahr voll täglicher Sehnsucht nach Dir.
Ein Jahr ist vergangen. Ein Jahr ist „gelebt“. Wo ist die Zeit geblieben? Der Schmerz ist immer noch so nah, als wäre es gerade geschehen. Gleichzeitig das Gefühl, Jessica schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen, gefühlt zu haben. Eine unendliche Ewigkeit. Ein Gefühl, das in einer bedrückenden Leere endet. Die Leere, die mein Leben bestimmt. Die Leere, die Du Jessica hinterlassen hast.
Dann wieder der hämmernde Schmerz, das Gefühl wahnsinnig zu werden, es ist immer noch nicht wirklich zu glauben. Noch immer ist manchmal das Gefühl da, das Jessica jeden Moment um die Ecke kommt. Einfach wieder da ist, ich sie in den Arm nehmen kann. Aber sie kommt nicht, sie kommt nie wieder.
Fragend bleib ich zurück. Voller Sehnsucht, voller Leere.
In diesem Jahr ist soviel passiert, hat sich soviel verändert. Aber immer noch wissen wir nicht wo wir stehen,. wie unser Leben weitergeht. Noch immer ist jeder Morgen eine Qual, ein Kampf in den neuen, nicht gewollten Tag. Jeden Tag aufs neue frage ich mich nach dem Sinn, nach dem Warum. Noch immer diese Leere, ich habe Angst vor dem Leben. Angst davor, nicht zu wissen, wie ich mit dem Verlust meiner geliebten Tochter zurechtkommen soll. Welche Aufgabe habe ich noch in diesem Leben. Mein Job? Nein das kann nicht der Sinn meines weiteren Lebens sein. Doch ich muss. Geld verdienen um dieses so genannte Leben zu finanzieren. Keine Idee wie und wo ich diesem Leben einen Sinn geben kann. Ich möchte nicht mehr oberflächlich leben. Es muss einen höheren Sinn geben. Ansonsten wäre dein Tod noch sinnloser als er überhaupt schon ist. Doch welchen? Egal welchen Sinn ich vielleicht irgendwann einmal finden sollte. Nichts kann so sinnvoll sein das Dein Tod dadurch gerechtfertigt wird oder auch nur verständlicher. NICHTS !!!
Jeden Abend, wenn sich der Tag dem Ende neigt und der Körper die Ruhe im Schlaf braucht, um neue Kraft für einen neuen Tag zu bekommen, möchte ich am liebsten nicht einschlafen. Denn es steht wieder dieser unbeschreiblich qualvolle neue Tag an. Unser Äußeres hat sich scheinbar nicht oder kaum verändert. Aber das körperliche und seelische Empfinden, meine Auffassungsgabe gleicht dem eines sehr sehr alten Menschen. Körper und Geist warten scheinbar nur darauf von diesem irdischen Leben erlöst zu werden.
Nimm die Last des Tages getrost auf dich,
sie sind gezählt,
die Tage und die Lasten
(Jes. 60,20)
Ein Spruch der Hoffnung macht, irgendwann von den Leiden erlöst zu werden und mit Dir wieder vereint zu sein.
Nach der Gedenkfeier erreichten uns die unterschiedlichsten Reaktionen. Da war von Achtung und Stolz die Rede aber auch von „so was kann man auch zum Kult machen“ und Unverständnis darüber, dass man mit seiner Trauer in die Öffentlichkeit geht. Doch uns war bei allem wichtig, allen die es wissen wollten mitzuteilen, wie wir dieses schreckliche Jahr gelebt haben, welche Tiefen wir durchgemacht haben, welche Gefühle uns treiben, welche Ängste wir leiden.
Uns ist es wichtig, dass die Trauer um unsere Tochter nicht totgeschwiegen wird. Die Trauer ist da. Und wir leben unsere Trauer. Ansonsten habe ich das Gefühl, als würde ich irgendwann platzen. Die Trauer gehört zu unserem Leben dazu, sie ist ein fester Bestandteil geworden. Menschen die damit und mit uns nicht umgehen können, mit denen können wir auch nicht mehr umgehen. Dabei spielt es keine Rolle wer diese Menschen sind und wie nah sie uns früher einmal standen.