5 Jahre ohne Dich
Noch nie ist es mir so schwer wie dieses Jahr gefallen, so öffentlich über meine Gefühle zu schreiben. Inzwischen bin ich so weit, dass ich meinen Schmerz nicht mehr nach außen trage, vielleicht auch gar nicht tragen möchte. Er ist weiter nach innen gewandert und weiter innen heißt tiefer und tiefer heißt verborgener. Es ist nicht so, dass ich nicht über meine Gefühle und Gedanken reden möchte, doch wer will schon nach dieser, für andere doch recht langen Zeit etwas davon hören ? Nur gerade innere Wunden können sehr schmerzhaft sein. Man sieht sie nicht, aber sie sind genauso real.
Wage ich es wirklich noch mal von meiner Trauer zu erzählen, werde ich mit großen Augen angeschaut, man wechselt das Thema oder muss auf einmal ganz schnell weg. Einmal bekam ich sogar zu hören, dass ich mich verbittert anhöre. Nein, ich bin nicht verbittert, nur an manchen Tagen bin ich einfach so tieftraurig, dass ich für andere vielleicht verbittert wirke. Diese Reaktionen tun sehr weh und ich habe dadurch gelernt, dass ich vieles lieber mit mir allein ausmache, um solchen zusätzlichen Verletzungen zu entkommen. Es gibt leider nur ganz ganz wenige, die mir auch heute noch geduldig zuhören und Verständnis haben.
Trauer braucht eine Heimat
Meine Trauer braucht eine Heimat,
ich muss wissen, wo sie wohnt
und wo sie zuhause ist.
Heimatlose Trauer irrt herum,
führt zu obdachlosem Schmerz,
zu Isolation und Einsamkeit.
Meine Trauer braucht eine Heimat,
wo ich sie auch mal allein lassen kann
ohne ein schlechtes Gewissen.
Heimatlose Trauer irrt herum,
klopft an viele Türen und Herzen
und wird doch von allen abgewiesen.
Meine Trauer braucht eine Heimat,
wo ich sie finden kann,
um mit ihr immer wieder
über meinen Verlust zu sprechen.
Heimatlose Trauer verirrt sich an Orte,
wo niemand mehr ihre Sprache spricht
und niemand mehr sie versteht.
Meine Trauer braucht eine Heimat,
wo ich sie besuchen kann
als willkommener Gast
und lieb gewonnener Freund.
Dann entzünden wir gemeinsam eine Kerze
Und wissen uns beide im Leben geborgen.
(Regina Tuschl)
Immer wieder denke ich an das Beispiel eines Beinamputierten. Niemand würde von diesem Menschen erwarten, dass er wieder tanzt oder Fußball spielt, wie vor dem gewaltsamen Eingriff in sein Leben. Im Gegenteil, erst dadurch, dass von diesem einbeinigen Menschen nicht erwartet wird, dass er wieder genauso wie früher wird, kann er beginnen, sich auf seine neue Situation einzustellen, kann versuchen, mit einem Bein gut zurecht zu kommen und neue Möglichkeiten entdecken und das versuchen wir immer wieder aufs Neue.
Seit nunmehr fünf Jahren frage ich mich immer wieder, wie wir diese Zeit ohne Dich überlebt haben. Das Einzige, was wir immer tun konnten, war immer wieder offen und mutig zu sein, immer wieder einen Schritt nach vorne zu gehen, auch wenn man weiß, dass vor einem mal wieder ein tiefes Loch ist, von dem man nicht weiß, wie man es überqueren soll. Jedes Loch ist wie ein kleines Sterben. Man weiß nicht, was danach kommt, wie es weitergeht. Wird es besser oder wird es schlechter ?
Nein, ich bin auch in diesem Jahr nicht wieder zu dem Menschen geworden, der ich einmal war, obwohl ich denke, dass es immer noch einige gibt, die darauf warten. Ob ich mich selber gefunden habe, weiß ich nicht. Die Straße, auf der ich noch vor fünf Jahren unterwegs war, ist gesperrt für mein restliches Leben. Ich folge einem Weg, von dem ich nicht weiß, wohin er mich noch führt, doch ich weiß, dass ich ihn nie allein gehe. Ich habe dies akzeptiert und suche auch meinen alten Weg nicht mehr, weil er nicht mehr zu mir passt. Irgendwann in den letzten Jahren habe ich die Brücke in meine „neue Normalität“ gefunden. Wann dies genau war, kann ich gar nicht mehr sagen.
Heute ist mir klar, dass ich dank einer ununterbrochenen Reihe winziger Ereignisse nicht den Boden unter den Füssen verloren habe, dass immer noch ein Grund da war, der mich gehalten und getragen hat. Ich würde gerne jedem sagen, der uns auch im fünften Jahr begleitet hat, dass alles zählt weit mehr, als man glaubt, die geringste Geste, das zögerlichste Wort, die schweigsamste Gegenwart. Wie sehr hätten wir von Anfang an die Liebe und das Dasein unserer Familie gebraucht.
Meine Frage, wozu dies alles nötig war, wird hier auf Erden immer unbeantwortet bleiben. Ich muss mich immer wieder damit einverstanden erklären, dass mein Leben eine ständige offene Frage bleibt. Es kann aber nicht sein, dass alles Leiden umsonst ist, wenn man sein Kind verliert. Verloren ist erst alles, wenn ich mich entscheide, mit Dir zu sterben. Wir Drei sind aber bereit, immer wieder nach vorn zu schauen, wenn es auch oftmals so schwer ist. Wir haben es geschafft, dass die Liebe zu Dir um ein Vielfaches stärker ist, als der dauernde Schmerz, den wir in uns tragen. Der Schmerz ist wandelbar, aber die Liebe zu Dir bleibt unverändert für immer. Gibt es einen größeren Beweis unserer Liebe, als dass wir weiterleben, uns immer wieder an Dinge von Dir erinnern und gerne von Dir erzählen.
Den Rest meines Lebens werde ich für ein lebenswertes Leben für uns Drei kämpfen. Für ein Leben, in dem die Liebe und die Hoffnung an erster Stelle stehen sollen.
Auf der diesjährigen Fahrt in den Urlaub habe ich die ganze Hinfahrt an unsere gemeinsamen Urlaube denken müssen. Im Innern musste ich lächeln über eure nervenden Streitereien auf dem Rücksitz. Wie gerne würde ich das jetzt aushalten. Es war unsere 4. Fahrt nach Holland und nie war mir so bewusst, dass es keine gemeinsamen Urlaube mehr mit Dir geben wird. Wir wissen, dass Du auf eine andere Art und Weise bei uns bist, doch fehlt uns so sehr Deine körperliche Anwesenheit.
Papa und ich saßen am Strand und haben dort die Familien mit ihren Kindern spielen sehen. Auch uns war diese besondere Zeit mit euch geschenkt. Nur leider war sie viel zu kurz.
Gleichzeitig ist uns aber auch bewusst, dass Du mit Deinen 17 Jahren Familienurlaub wahrscheinlich total uncool finden würdest und viel lieber mit Deinen Freundinnen unterwegs wärest.
Die größte Hürde, die wir in diesem Jahr schaffen mussten, waren die Abi-Feierlichkeiten von Deinem Bruder. Zum ersten Mal seit Deinem Tod waren wir wieder in der Schule. Da Du normalerweise schon in der Oberstufe wärst, hättest Du auch bei der Zeugnisübergabe teilgenommen. Wahrscheinlich hättest Du sogar im Chor mitgesungen. Ich habe die ganze Zeit mit den Tränen gekämpft, weil ich weiß, dass ich Dich dort so niemals sehen darf. Gleichzeitig hat mich ein wahnsinniger Stolz auf Deinen großen Bruder erfüllt. Du weißt, wie gut er das Abitur geschafft hat und unter welchen besonderen Umständen er das alles geschafft hat.
Komischerweise ist mir dieser Tag schwerer gefallen, als der Abi-Ball am nächsten Tag, an dem uns unsere lieben Freunde begleitet haben. Dich darf ich leider nicht in einem so feierlichen Ballkleid bewundern, was Du Dir immer gewünscht hast, doch ich weiß, dass Dir das alles gar nicht fehlen wird. Du bist in einem Glück und Frieden, den wir uns hier auf Erden gar nicht vorstellen können.
Dieses Gedicht habe ich mal irgendwo im Internet gelesen. Leider weiß ich nicht, von wem es stammt.
Wer wärst Du heute ?
Wenn ich an Dich denke,
dann denke ich Dich so,
wie Du früher warst.
Eine lange Zeit ist vergangen
Und ich frage mich:
Wer bist Du heute ?
Dich im Konjunktiv zu denken,
kommt mir wie ein Verrat meiner Liebe vor.
Wer wärst Du heute ?
Das ist, als seiest Du nicht.
Doch Du bist,
immer stärker,
immer fester,
ein Teil von mir,
den ich nicht vergessen,
nicht aufgeben,
nicht loslassen und vor allem nicht
leugnen will.
Du bist – jeden Tag und jede Minute –
der Teil von mir, der mich, so wie ich heute bin, ausmacht.
Du WÄRST nicht – Du BIST, jeden Tag, ganz nah bei mir.
…………………………
(Verfasser unbekannt)
Auch in Jahr Fünf hast Du mir wieder viele Zeichen geschickt. Das Beeindruckenste war Dein Kleeblatt, welches ich mir auf eine bestimmte Frage an Dich gewünscht hatte.
Deine Zeichen kommen nicht immer genau zu dem Zeitpunkt, wo ich sie mir wünsche, sondern oft auch dann, wenn ich schon gar nicht mehr damit rechne.
Wenn ihr eine sanfte Brise spürt, die euch
umschmeichelt, wenn ihr traurig seid, ist das
eine Umarmung, die euch der Himmel schickt,
von jemanden dort oben, den ihr liebt.
Wenn ein weicher, zarter Regentropfen auf
eurer Nase landet,
ist das ein kleiner Kuss so zart wie eine
Rose.
Wenn ein Lied, das ihr hört, euch mit einem
Gefühl süßer Liebe erfüllt, ist das eine
Umarmung, die euch der Himmel schickt, von
jemand ganz besonderen dort oben.
Wenn ihr morgens aufwacht und hört den
Gesang
einer Blaumeise, ist es Musik, die euch der
Himmel schickt, um euch den ganzen Tag zu
erfreuen.
Wenn winzig kleinen Schneeflocken auf eurem
Gesicht landen, ist das eine Umarmung, die
euch der Himmel schickt, geschmückt mit
Engelspitze.
So haltet die Freude in eurem Herzen
fest, wenn ihr einsam seid.
Umarmungen, die euch der Himmel schickt,
helfen einem gebrochenem Herz.
(Verfasser unbekannt)
Die letzten Monate haben mich diese Zeilen aus einem Lied von Silbermond begleitet:
Gib mir ein kleines bisschen Sicherheit, in einer Welt, in der nichts sicher scheint,
gib mir in dieser schnellen Zeit irgendwas, das bleibt.
Das Leben besteht allerdings aus einem ständigen Wandel und wäre dies nicht so, wäre ich auch nicht in der Lage, mein Leben so weiterzuführen, wie ich es heute schon wieder kann.
Warum aber müssen sich auch positive Dinge wieder zum negativen hin verändern. Im ersten Jahr nach Deinem Tod habe ich gesagt, dass ich nun vor nichts mehr Angst habe, weil ich das allerschlimmste erlebt habe. Das stimmt so nicht, denn ich habe wahnsinnige Angst davor, noch mehr Menschen zu verlieren, die ich liebe und die mir wichtig sind.
In unserer Selbsthilfegruppe hat uns dieses Jahr das Thema „Spuren“ beschäftigt und auch beim Gedenkgottesdienst wird dies Thema sein. Du hast so viele sichtbare Spuren bei uns hinterlassen, aber die wichtigsten sind für mich immer noch die, die Du uns in unseren Herzen hinterlassen hast. Dein Tod hat uns Drei verändert, wir sind zu anderen Menschen geworden.
Deine Spuren
Oft finde ich sie, in der Erinnerung,
der Sehnsucht, der Liebe, in Deinen Taten …
ich suche Spuren, im Regen, im Sturm,
im Schnee und in der Sonne,
im Gespräch mit Menschen, die Dich vermissen,
spüre ich den Trost, den Halt, den Schmerz.
Deine Spuren werden nie vergehen,
sie endeten nur viel zu früh …
Spuren von Dir in allen Räumen
Spuren von Dir in meinen Träumen
Spuren von Dir in meinem Leben
Spuren von Dir… die Du mir gegeben
Spuren von Dir – wo ich auch bin
Ohne Dich erscheint Alles ohne Sinn
Seit Du weg bist, ist mein Leben so schwer
Seit Du weg bist scheint`s als gelänge nichts mehr
Spuren von Dir erinnern an Dich
Spuren von Dir – sie trösten mich
Nie hättest Du gewollt, dass Deine Spuren uns traurig machen
Vielmehr hast Du geliebt, wenn wir mit Dir lachen
Was wir von Dir gelernt haben wird uns begleiten auf allen Wegen
So werden Spuren von Dir stets in uns weiterleben –
Erinnerungen so deutlich – wie Spuren im Sand
Spuren von Dir in meinem Leben
werden mir stets Halt und Richtung geben.
Die Spuren deiner Worte,
Die Spuren deiner Umarmung,
die Spuren deines Lachens,
Niemand kann sie auslöschen in mir.
(Verfasser unbekannt)
Ich spüre, dass die Liebe zu Dir mich am Leben erhält, dass sie eine andere Liebe ist, als die weltliche, die ich für Patrick oder Deinen Papa empfinde. Dazu habe ich etwas passendes in dem 3. Buch von Roland Kachler gefunden:
Du bleibst meine Liebe – und es wird immer eine große Liebe sein.
Die Liebe zum Verstorbenen ist eine große Liebe. Das haben mir meine Trauer und mein unendlicher Schmerz gezeigt. Paradoxerweise hat der Tod diese Liebe noch größer gemacht. Zwar hat der Tod mir meinen geliebten Menschen genommen, aber er hat ihn mir auch unauslöschlich ins Herz gebrannt. Gerade der Tod macht mir den geliebten Menschen einzigartig und damit groß und unendlich wertvoll für mich. Der Tod macht den Verstorbenen für mich noch einmal mehr und in einer unerwarteten Weise zu einer großen Liebe. Eine große Liebe ist eine unbedingte Liebe, die durch nichts zerstört werden kann. Sie ist auch deshalb groß, weil sie mich in meinem ganzen Selbst erfasst hat und ich intuitiv weiß, dass sie mich nicht mehr loslassen wird. Nicht ich halte die große Liebe, sondern sie hält mich. Und wenn es in meinem Leben eine große Liebe gibt, dann bleibt sie so groß, sogar auch dann, wenn sie unerfüllt bleibt und ich sie jetzt nicht leben kann. Eine große Liebe glaubt fest an ihre Erfüllung, wenn nicht in diesem Leben, dann in einem anderen Leben oder in einer anderen Seinsweise. Die große Liebe ist nicht an dieses begrenzte endliche Leben gebunden. Die große Liebe ist eine unendliche und ewige Liebe. Und spätestens der Tod hat – wohl ungewollt – meine Liebe zu meinem geliebten Menschen unendlich und ewig werden lassen.
Wirklich verstehen wird dies wohl nur, wer einen geliebten Menschen verloren hat und diese Beziehung auch über den Tod hinaus aufrecht erhält.
Die Liebe zu Dir führt uns immer weiter auf den Weg zu Dir und wird uns eines Tages wieder vereinen.
Wir freuen uns auf Dich !!!