Am 16.10.2004 gegen 05.30 Uhr ging meine Frau in Jessicas Zimmer um sie zu wecken und ich verließ das Haus um Brötchen für das Frühstück zu holen. Ich verließ das Haus, so wie ich es schon viele Male zuvor verlassen hatte. Doch gerade als die Tür ins Schloss fiel, hörte ich den Schrei meiner Frau, der durch meinen Körper schoss. Nichts hat er in mir so hinterlassen, wie es noch vor einer Sekunde in mir aussah.
Ich stürmte die Treppe hinauf, vorbei an meiner mir entgegenkommenden Frau. Ich hörte sie nur schreien „sie ist tot!“. Und schon sah ich meine kleine Jessica auf dem Bett liegend.
Sie war tot.
Einfach so.
Doch glauben konnte ich es nicht. Sofort stürmte ich die Treppe hinunter zum Telefon, rief den Notarzt an. Gleichzeitig wieder die Treppe hinauf um nach dem Telefonat mit verzweifelten Wiederbelebungsmaßnahmen zu beginnen. Mittlerweile, durch den Schrei meiner Frau wach geworden, saß mein Sohn neben mir und Jessica im Bett und rief verzweifelt, was ich alles zu machen habe.
Meine Bemühungen, das Leben meiner geliebten Tochter zu retten, endeten erst, als der Notarzt mich weggeschickt hatte und mit den vergeblichen Bemühungen begann.
Ich hielt es nicht aus. Die Angst und Verzweiflung, die endgültige Nachricht zu hören, dass meine Jessica nicht mehr leben sollte, trieb mich durch das ganze Haus. Ich hatte das Gefühl jemand reißt mir das Herz aus dem Leib.
Bitte lieber Gott, wenn du ein gnädiger Gott bist, dann bitte lass mir meine Tochter!!
Doch er hat sie mir nicht gelassen.
Am Morgen des 16.10.2004 hat er die sonnige und gütige Seele meiner geliebten Tochter Jessica in ein anderes Leben berufen und uns ihren wunderschönen Körper zur endgültigen Ruhe auf Erden zurückgelassen. Jessica durfte unser Leben gerade mal 12 Jahre und 7 Monate bereichern.
Am Morgen des 16.03.1992 wurde sie uns geschenkt und am Morgen der 16.10.2004 wieder genommen.
Das „Nein“ meiner Frau nach Mitteilung des Notarztes schoss wieder wie ein Blitz durch meinen Kopf. Ich lief die Treppe hinauf, sah meine Frau mit dem Notarzt im Zimmer meines Sohnes sitzen. Meine Frau in sich zusammengesackt, der Notarzt daneben, blickte zu mir und gab mir mit gesenktem Kopf zu verstehen, dass er es nicht mehr geschafft hat, Jessica wieder ins Leben zu holen.
Voller Verzweiflung und ohne Rücksicht auf irgendwas oder irgendjemandem der mir im Wege stand stürmte ich zu meiner Tochter. Sie lag in ihrem Zimmer auf dem Boden. Ich setzte mich neben sie, nahm sie in die Arme und habe sie angeschrien. Nein, du darfst nicht gehen! Geh bitte nicht, geh bitte nicht. Geh bitte nicht ohne mich! Nimm mich mit!! Du darfst nicht alleine gehen!!!
Der mittlerweile eingetroffene Notfallseelsorger bat mich irgendwann, ich weiß nicht wie lange es gedauert hatte, da ich jedes Zeitgefühl verloren hatte, dass wir Jessica gemeinsam auf ihr Bett legen sollten. Nachdem wir das getan haben, blieb ich bei Jessica, hielt sie im Arm.
Mittlerweile waren weitere Personen ins Zimmer gekommen. Es waren Polizisten. Der Notarzt hatte uns vorher schon darauf vorbereitet, dass bei einem Kindstod immer die Kripo verständigt werden muss, ganz egal welche Umstände herrschen.
Man hat mich am Bett, neben meinem Mädchen sitzen lassen. Ich hielt Jessica weiter im Arm, nein ich wollte sie nicht gehen lassen. Es kann doch nicht sein, dass du heute gehst. Du solltest heute tanzen und nicht sterben. Nein heute war doch kein Tag zum sterben. Du solltest doch tanzen.
Immer wieder streichelte ich ihre wunderschönen langen blonden Haare. Sie war wunderschön.
Irgendwann, bat man mich zu meiner Frau zu kommen, da sie mich bräuchte. Der einzige Grund warum ich meine Jessica verlassen würde. Ich konnte sie doch hier nicht so alleine lassen. Sie ist doch schon gestorben, ohne uns eine Chance zu geben sie zu retten. Sie ist einfach mitten in der Nacht alleine von uns gegangen.
Während meine Frau und ich in unserem Wohnzimmer vom Notarzt mit Beruhigungsmitteln versorgt wurden, der Seelsorger sich mitfühlend und einfühlsam um unseren 15jährigen Sohn gekümmert hat, wurden die so genannten Formalitäten (die Fragen der Polizei, die Beauftragung des Bestattungsunternehmens) an uns vorbei mit der Schwester meiner Frau geklärt.
Irgendjemand muss irgendwann noch mal danach gefragt haben, ob wir unsere Jessica noch einmal sehen wollten. Mit dem Bild vor Augen, wie meine Frau Jessica in ihrem Bett gefunden hatte, verneinte sie diese Frage. Niemand hatte den Weitblick, uns die Möglichkeit des gemeinsamen Abschiedes zu ermöglichen. Es wurden keine Worte an meine Frau oder mich gerichtet, doch noch die letzte Möglichkeit des Abschiednehmens in unserem Haus, in ihrem Zimmer, an ihrem Bett wahrzunehmen. Ich habe zwar lange bei ihr gesessen, doch als man mich zu meiner Frau holte, war ich mir nicht bewusst darüber, das Jessica danach einfach aus ihrem Zimmer, aus unserem Haus gebracht wurde. Plötzlich war sie fort. Der Notarzt sagte uns nur noch, das sie an Herzversagen gestorben sei und wir sie uns besser nicht mehr ansehen sollten, da bei Herzversagen, das Gesicht komplett blau anlaufen würde. Diesen Anblick sollten wir uns ersparen. Im Nachhinein mussten wir feststellen, dass der persönliche Abschied das Wichtigste beim Begreifen des Unfassbaren ist.
Irgendwann im Laufe des Vormittags, ich kann nicht mehr genau sagen wann, rief ich noch bei Freunden an um ihnen die Nachricht über Jessicas Tod zu übermitteln. Während ich die Nummer wählte, machte ich mir klar, was ich zu sagen hätte. Doch als der Anruf angenommen wurde, konnte ich nur noch ins Telefon schreien: „Sie ist tot, Jessica ist tot“, bevor ich weinend zusammensackte.
Unsere Freunde waren innerhalb weniger Minuten bei uns, um uns durch diesen Tag zu begleiten.
Ab hier fehlen mir weitgehend die Erinnerungen an diesen Tag. Ich weiß nur noch, das gegen Mittag der ortsansässige Arzt geholt wurde um uns weitere Beruhigungsmittel zu verabreichen und dergleichen am Abend noch der Notdienst bei uns war um uns ein Mittel zu spritzen, damit wir schlafen konnten.
Heute ist der erste Tag vom Rest unseres „Lebens“!